Kunst/Architektur-Projekt Lieblinge in Steinhausen (CH), 2017


Stefan Steiner – Lieblinge
Resonanzboden der Interaktionen

Der Künstler reagiert, der Betrachter reagiert.
Wenn niemand reagiert, gibt es kein Werk.
Bitte prüfen Sie sorgfältig Ihre Reaktion auf Kunst.
Agnes Martin (um 1966)


Liebling ist der, die oder das, der geliebt wird, die in besonderem Maße jemandes Gunst und Sympathie genießt, das von jemandem bevorzugt wird, so sagt der Duden. In unserem Sprachgebrauch begegnet der Begriff in der Kommunikation von Paaren, stellvertretend für den Namen. Aber auch Objekte, Speisen, Kompositionen oder Bilder können den Status eines Lieblings- einnehmen. Stefan Steiner relativiert die Bedeutung des Wortes, wenn er eine Versammlung von 200 Bildern als »Lieblinge« betitelt, er spielt mit dem inflationären Gebrauch des Begriffs und stößt eine Kette von Assoziationen an. Zudem lenkt er den Blick auf die Frage: Was unterscheidet denn eigentlich die Lieblinge untereinander? Gibt es nicht innerhalb dieses Korpus der Bilder wieder eine Hierarchie, Lieblings-Lieblinge? Und wer bestimmt, wer ein Liebling ist? Der Maler, der Betrachter oder klären dies gar die Werke untereinander?

In einem Raum der Versammlung, der Begegnung und der Passage innerhalb der Zentrumsüberbauung Dreiklang in Steinhausen, die den Gemeindesaal, eine Bibliothek sowie Alterswohnungen beherbergt, besetzt Lieblinge drei Wandstücke. In die quadratischen Gefache seiner modularen Grundstruktur, die eine Bar einfassen und wie ein »Setzkasten« funktionieren, sind die Lieblinge in einer entschiedenen, endgültigen Konstellation eingeschoben. Das der gesamten Arbeit zugrundeliegende Raster schafft Klarheit, Struktur und gewährleistet die gleichmäßige Verteilung der Bildtafeln in der Fläche. Deren Platzierung lässt allerdings nicht vergessen, dass auch zahllose andere Konstellationen möglich wären. Der Künstler hat die Vielzahl der Möglichkeiten durch nur wenige Regeln etwas eingeschränkt: Etwa ein Drittel der 300 Fächer bleibt leer, in die anderen sind die sich zum Raum öffnenden und die geschlossenen Bildträger in ungefähr gleicher Anzahl eingeschoben. Neun Tafeln aber begegnen außerhalb dieses Bezugsrahmens, frei und vereinzelt im Raum, wie Botschafter, die an andere Orte ausschwärmen und die starke Bewegung innerhalb des Rasters über dieses hinaus leiten.

Erkennbar prägen identische und differierende Elemente die quadratischen Bilder: Die materielle Grundsubstanz, Konstruktion und Größe sind gleich, die bemalten Flächen jeweils einzigartig. Jedes Bild ist auf weißem Grund gemalt. Meist besetzt eine Kreisform die quadratische Fläche, mitunter folgt die mit breitem Pinsel aufgetragene Farbspur aber auch den Bildkanten, so dass horizontale oder vertikale Streifen nebeneinander stehen. Ein zarter, warmer Rosaton dominiert. Das liegt nicht nur in den Bildern selbst begründet, sondern in dem unterfangenden Grundton, der das »Regal« überzieht. In den freibleibenden Gefachen, den Leerstellen, wird das zarte, warme Rosa des Bilderträgers ebenso sichtbar wie an den Stegen zwischen den Bildern und in den Randzonen.

Beiläufig fast eröffnet sich hier ein komplexes Zusammenspiel zwischen dem Raster und den monochromen bzw. bemalten Flächen. Sie sind jeweils 32 x 32 cm groß, gehören zum Grund des Rasters oder sind Teil der eingesetzten, jeweils an einer Seite offenen Holzkörper. Ist deren Innenseite bemalt, tritt die Malerei innerhalb der Gesamtfläche zurück, ist die Außenseite bemalt, drängt sie in den Raum. So sind Werk und Raum förmlich miteinander verzahnt. Jedes Bild steht – getrennt durch die Stege der Gefache – für sich und zugleich im Dialog mit den umgebenden: Sie ziehen sich an, stoßen sich ab, ergänzen sich, gewinnen Kraft aus den Nachbarn, bauen Brücken, setzen Akzente. Das Quadrat, der Kreis, die Farben und die Spuren des Pinsels sind Agenten in diesem vielstimmigen Dialog. Je nachdem, welches Element in den Blick gerät, eröffnet sich ein neuer Weg, neue Beziehungen, neue Sichtweisen.

Lasierend hat Stefan Steiner zahlreiche Farbschichten übereinandergelegt und so einmal gesetzte Farben übermalt, bis deren Spuren sich zu verlieren scheinen. Das kühle Titanweiß, ein Mischweiß sowie das eher chamoisfarbene Gesso, ein gipshaltiges Bindemittel, hellen die wässrigen oder gesättigten Acrylfarben auf oder setzen eigene Akzente. Überblickt man die Gesamtheit der Lieblinge, so dominieren die Rosa- bis Rottöne, ihre Mischungen mit Gelb, daneben Gelb, Grün sowie Schwarz und Weiß. Blau ist ein Außenseiter, das nur vereinzelte Akzente setzt. In seiner Malerei auf großem Format fügt Steiner kreisende Formen nebeneinander, verwebt sie miteinander in zahllosen sich überlagernden Farbschichten. Hier nun hat jede Kreisform ihr fest definiertes Feld, das sie mitunter zur Gänze ausfüllt. Die kreisende Bewegung des Pinsels stößt sich dann an den Seitenwänden ab, wird abgeleitet und Richtung Zentrum zurückgedrängt.

In seinen »Notizen über das Zeichnen« hat Richard Serra beschrieben, dass das Quadrat »gravitationsmäßig schwerer» erscheint als ein Rechteck und dass der Kreis zwar schwer wirken kann, eigentlich aber eine dynamische Form ist. Der Kreis, der hier nie ein zur Gänze geschlossener ist, drängt mit seiner Bewegung über das Geviert der Fläche hinaus, bleibt aber zugleich im Quadrat gefangen. So zündet diese komplexe Arbeit aus dem Widerstreit von Statik und Dynamik einen offenen, vibrierenden, zudem klangvollen Dialog, und entfacht ihn kraft ihrer vielfältigen Komponenten immer wieder neu.

Nicht die nachgiebige Leinwand, sondern Holz ist das Trägermaterial der Malerei von Stefan Steiner. Rahmen und Oberfläche sind als offene Behältnisse ausgebildet und damit zugleich Resonanzkörper, in denen sich Schall sammelt und wieder abgegeben wird. Neben der Größe der Bildfelder, angelehnt an das Manchem noch vertraute Format der Langspielplatte, und dem Verbund von quadratischer Hülle und rundem Vinyl, ist dies ein weiterer Hinweis auf die Musik. Ein dritter eröffnet sich beim Blick auf die Gesamtheit von Lieblinge: Der Rhythmus aus Leerstellen und Bildern, aus vor- und zurücktretenden Bildflächen, lässt an musikalische Notationen denken, und damit an kurze oder anhaltende Klänge, an Pausen und Stille, an den Wechsel vom Crescendo zum Diminuendo.

Gerade das dem Werk eingeschriebene System ist der Garant für sein enormes Potenzial an Offenheit und Variabilität. Stefan Steiner hat nach vielen Versuchen, Erprobungen und Prüfungen, die bereits im Atelier an einer Musterwand begannen, schließlich eine Konstellation als die gültige fixiert. Jedem Betrachter wird aber unmittelbar bewusst, dass er selbst zwar nicht eingreifen darf, dieses offene System jedoch in einem Prozess kreativen Begreifens nachvollziehen kann. Lieblinge ist eine Begegnung, ein Zusammenklang der Bilder, konzipiert und realisiert für einen Ort des Zusammentreffens von Menschen. Die Prämissen ihrer jeweiligen Begegnungen entsprechen sich auf verblüffende Weise: Ein Bausatz und die Farbpalette bzw. ein humaner Genpool erlauben unendliche Erscheinungsformen; kaum benennbare Töne bzw. Befindlichkeiten prägen die Begegnung; Aktion und Reaktion bewegen sich zwischen Anziehung und Ablehnung, zwischen friedlicher Koexistenz und Ignoranz. Der subtile Zusammenklang der Lieblinge wird zum Resonanzboden für die Bestimmung dieses Ortes, die Interaktion seiner Besucherinnen und Besucher, untereinander und mit den Bildern.

September 2017

Maria Müller-Schareck


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